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#1 [de] 

Daomei hatte zum letzten Lichterfest eine Geschichte vorbereitet. Leider fiel damals der Geschichtenabend aus. Nun verdichten sich die Zeichen, dass es einen weiteren Geschichtenabend in dieser Welt nicht mehr geben wird. Daomei schaut nochmal in das Manuskript und hängt es auf.

Ich möchte heute die Geschichte meiner Schwester Diwu erzählen. Wie meine anderen Schwestern haben wir uns im Waisenhaus unter der Rinde gegenseitig adoptiert. Ok, manche haben uns nachgesagt, wir seien eine Mädchenbande mit mir, der schlimmsten Unruhestifterin, als Anführerin. Mag sein. Aber ich liebe meine Schwestern mehr als mein Leben, und sie mögen mich hoffentlich auch. Diwu ist meine engste Verwandte, meist ziehen wir zusammen über die Rinde.

Ich bin damals, nach dem Tod meiner Eltern, direkt in das Waisenhaus auf der Rangerbasis gekommen. Diwu hatte es, wie viele andere, nicht so einfach. Das hat auch ihren Charakter geprägt. Sie ist ein ernstes Mädchen, etwas verschlossen, meine Neigungen zu groben Scherzen und Exzessen mag sie gar nicht, sie überlässt öffentliche Auftritte (einschliesslich Danebenbenehmen) gerne mir.

Deshalb bin ich es auch, die ihre Geschichte erzählt, für sie wäre es immer noch zu schmerzhaft.

Diwu war sehr klein, als ihre Eltern von den Marodeuren umgebracht wurden. Sie kennt deren Namen nicht, und auch nicht den ihren.Es lag wohl nur an dem Einspruch einer einzelnen Marodeurin, einer Elementarmagierin, dass das knapp ein Jahr alte Mädchen nicht getötet, sondern mitgenommen wurde.

Ich weiss nicht, ob die Sitte des Kindesraubs heute noch von den Marodeuren ausgeübt wird, vermutlich eher nicht. Damals war sie eine Reaktion auf die furchtbaren Verluste an Hominleben nach dem Grossen Schwarm. Auch wenn ich die Marodeure zeitweise mehr gehasst habe als die Kitins, möchte ich da nicht ungerecht sein.

Im Lager der Marodeure waren mehrere geraubte Kinder, mehr als zehn am Ende. Das älteste Kind war ein Junge, ein Tryker. Er war schon über 7 Jahre alt, als Diwu im Lager ankam.

Die Kinder bekamen von den Marodeuren keine Namen. Nach der Ideologie der Marodeure waren sie schwache unwürdige Homins der vier als degeneriert und verweichlicht angesehenen Völker. Sie konnten einen Namen erst erhalten, wenn sie im Kampf einen feindlichen Homin getötet hatten. Bis dahin waren sie Nummern. Der Junge, der als erster in die Hände der Marodeure gefallen war, wurde mit "Eins" angebellt, Diwu mit "Fünf".

Die Kinder hassten diese "Namen", die auf sie einprasselten wie die Stock- und Peitschenschläge, mit denen sie mitunter grosszügig bedacht wurden, beim kleinsten Anlass. Da das drittälteste Mädchen eine Zorai war, die die Allgemeinsprache nicht beherrschte, kam der Junge "Eins" auf eine Idee.

In einem wenig gebräuchlichen Zorai-Dialekt heissen die Ordnungszahlen für "Erste/r, Zweite/r, Dritte/r" usw. Diyi, Di'er, Disan, Disi, Diwu, Diliu und so weiter. Der Junge "Eins" überzeugte die Marodeure, dass das Mädchen "Drei" nur diese Sprache verstand. So bekamen die Kinder Namen und waren keine Nummern mehr.

Diyi war Diwus engster Freund, und er hatte auch sie ins Herz geschlossen. Oft hatte er sie nach den Kränkungen, die den Kindern täglich widerfuhren, getröstet, ihre Tränen getrocknet, sie in den Schlaf gewiegt. Und er hatte Vertrauen zu ihr, mehr als zu manchen der anderen Kinder.

Denn einige fieberten dem zwölften Lebensjahr entgegen, wenn sie nicht mehr "schwache Unwürdige" mit Nummern statt Namen sein mussten, sondern echte Marodeure werden konnten. Diyi hatte Diwu einmal gesagt, er werde lieber sterben, als ein Mörder und Verräter seines Volkes zu werden.

Nach einer langen Zeit kam der "grosse Tag", an dem Diyi einem Kampftrupp der Marodeure zugeordnet wurde, er sollte an Überfällen auf Hominsiedlungen teilnehmen und sich seinen Namen verdienen.

Am Abend zuvor hatte er Diwu umarmt. "Bitte, präge Dir ein: Ich bin Len Fyler vom Stamm der Korsare in Trykoth. Ich werde mein Volk nie verraten. Wir werden uns nicht wiedersehen, ich wünsche Dir alles Gute." Danach hatte er sich, scheinbar ungerührt, der Kampftruppe zugesellt, die lange vor Morgengrauen aufbrach.

Mehrere Tage hörte man nichts von dem Kommando. Das war normal. denn starke Kräfte der Atys-Rangers patroullierten in der Region und die Marodeurseinheiten mussten oft lange Umwege machen. Mehrere Basen waren bereits vernichtet worden.

Am Morgen des vierten Tages wurden die Kinder von einem Höllenlärm geweckt, Nahkampfgeräusche und magische Explosionen. Dann ging alles ganz schnell. Die Marodeure waren überwältigt oder tot. Atys-Rangers besetzten das Lager.

Diwu sah den leblosen Körper der Matis-Elementarmagierin, der sie ihr Leben verdankte und die sie manches Mal in den Schlaf gewiegt hatte, wenn sie vor der grausamen Disziplin in Tränen ausgebrochen war. Sie weinte hemmungslos. Eine hünenhafte Fyros-Nahkämpferin in ihrer von Marodeur-Anführern erbeuteten schweren Klam-Rüstung nahm sie sanft in die Arme. "Krieg ist furchtbar, mein Kind. Wir armen Sterblichen können nur Leben nehmen. Mögen die Götter Gerechtigkeit walten lassen. Wir wissen, dass wir nicht nur die Bösen töten, die Götter mögen uns verzeihen."

Diwu erfuhr nun, was geschehen war. Mitten in der Nacht in einer kleinen Hominsiedlung unter der Rinde wurden die Wachen von Kampflärm aufgeschreckt. Sie bemerkten einen Kampftrupp, offenbar Marodeure, der sich unbemerkt erschreckend nah herangeschlichen hatte. Aber innerhalb des Trupps herrschte Kampf und Streit. Mehrere Magier und Nahkämpfer stürzten sich auf einen schmächtigen Dolchkämpfer, der seinerseits offenbar die Elementar- und Beherrschungsmagier angegriffen und unterbrochen hatte. Der Junge hatte keine Chance und fiel bald. Aber die Wachen waren alarmiert, Verstärkungen eilten herbei, der Trupp, dessen Meuchelangriff verraten war, fiel schnell. Einer der Gefangenen verriet den Standort der Basis.

Diyi hatte Wort gehalten. Er hatte sein Volk nicht verraten, nicht für einen Namen unter den Marodeuren.

So kam Diwu in unser Waisenhaus. Wir ehren den Namen von "Diyi", Len Fyler, Tryker vom Stamm der Korsare, einem grossen Helden der Homins der vier Völker. Und auch der vom Namen unbekannten Matis-Elementarmagierin, aus dem Volk der Marodeure, die Grossherzigkeit und Mut bewiesen hat, gebührt unser Respekt.

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Daomei die Streunerin - religionsneutral, zivilisationsneutral, gildenneutral
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